Altes Gericht - Welche Aufmerksamkeit und Wertschätzung Hessen, Wiesbaden und seine Bürgerschaft ihrem kulturellen und kollektiven Vermächtnis entgegenbringen, wird die zukünftige Nutzung der Immobilie Altes Gericht zeigen. Form und zukünftige Nutzung werden entscheiden, wie Wiesbaden in die Zukunft schaut. Können wir aus unserem Kulturerbe HEUTE Kraft und Ideen für MORGEN gewinnen?


Gedächtnis

Das seit sechs Jahren leer stehende Gebäude des ehemaligen Wiesbadener Amts- und Landgerichts ist ein bedeutsamer historischer Ort. Ein Ort, der Geschichte und Geschichten in sich trägt.

 

Das Alte Land- und Amts Gericht ist ein Kulturdenkmal, das auch als ein Ort des Gedenkens gewürdigt werden muss. Auch viele Sozialdemokraten wurden aus politischen Gründen hier in Haft genommen. Einer war Georg Buch, der spätere Wiesbadener Oberbürgermeister und Präsident des Hessischen Landtages.

 

Das Gedenken an die  diktatorischen  Vollzüge und einseitige Rechtsverkündungen an diesem Ort  im Nationalsozialismus und die Wahrnehmung der daraus erwachsenen Leidensgeschichten mögen die Nachkommenden vor ähnlichen Fehlentwicklungen bewahren! Eine Nutzung für Bildung und Kultur vermag einen Beitrag zu leisten, um die Wunden aus dieser dunklen Zeit zu heilen. Die heutige künstlerische Zwischennutzung setzt mit dem projekt48 in den verlassenen Räumen in diesem Sinne positive Zeichen.

 

Wir wünschen uns für Wiesbaden einen achtsamen und kreativen Umgang mit dem reichen Kulturerbe dieser Stadt, wo gerade an diesem Ort aus Geschichte(n) Zukunft zu entwickeln ist. Die über die weitere Nutzung dieses öffentlichen Raums Heute zu führende Diskussion muss tragfähige Brücken nach Morgen schlagen.

 


Gestern und Heute

Gestern: „Das mächtige Gebäude, das die ganze Front der Gerichtsstraße einnimmt, macht einen durchaus imponierenden Eindruck; … mit Recht ist man dazu gekommen, den ernsten, so düsteren Charakter des Gerichts durch eine lichtvolle, freundlich wirkende Fassade zu heben“. Nachzulesen im Wiesbadener Generalanzeiger vom 03.04.1897.
Heute für Morgen: „Lifestyle-Wohnen“ in repräsentativer Hülle deutscher Frührenaissance mit gotischen Anklängen; in einem Gebäude, in dem 100 Jahre lang, zu Recht oder zu Unrecht über in jedem Falle bittere Schicksale entschieden wurde.


Unter den Augen Justizias

Prachtvoller Eingang zu einem – vermeintlich – herrschaftlichen Wohnen. Unter den verbundenen Augen Justizias mit den Insignien Waage und Schwert für das ausgleichende und das strafende Recht wird das Symbolkapital dieses Orts in wohnungswirtschaftliche Anreize umgemünzt. Ein Alltagsleben in falschem Bewusstsein ist vorprogrammiert.

 

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Herrschaftliche Symboldramaturgie

Dem Entree schließt sich mit Eingangshalle und Treppenaufgang eine weitere Steigerung herrschaftlicher Symboldramaturgie an. Während der Angeklagte unter dem (Ein)Druck architektonischer Machtdemonstration seinem Urteil demütig entgegen ging, wird sich die in Aussicht genommene Mieterklientel bei der abendlichen Heimkehr an der historistisch flankierten Aufstiegsrhetorik des 19.ten Jahrhunderts immer wieder berauschen können. Voraussehbar aber ist, dass sich die unvermeidliche Dissonanz zwischen grandioser Einstimmung und den verschatteten Interieurs unbesonnter Loftwohnungen schnell als gravierendes Nachfragehemmnis erweisen wird.


Großes Befremden

Es stellt sich großes Befremden ein, wenn dem Alten Gericht nun 40 bis 50 Wohneinheiten, auch Nasszellen und Sanitäreinheiten, für – wie es heißt – „hochwertiges Wohnen“ eingepflanzt werden sollen. Denn auf diesem Areal waren während der NS-Zeit aus politischen, religiösen und rassistischen Gründen Verfolgte Gefangene des Regimes. So wurden nach dem Pogrom vom 9. und 10. November 1938 jüdische Männer hier eingesperrt, bevor sie im Beisein zahlreicher Zuschauer auf Lastwagen in Konzentrationslager abtransportiert wurden.

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Weitere Informationen über die Geschichte des Alten Gerichts als Gedenkort finden Sie unter www.wiesbaden.de

Weitere Information zur Errichtung und Baugeschichte des Alten Gerichts finden Sie unter www.lg-wiesbaden-justiz.hessen.de

 


Weltkulturerbe Wiesbaden
In der opulenten Schrift „Kulturerbe Wiesbaden – Bühne der Gesellschaftskur im 19. Jahrhundert“ wird das grandiose Panorama der „Weltkurstadt“ und „Luxusstadt“ (Helmut Müller), die Wiesbaden in manchen seiner Quartiere noch heute ist, entfaltet. Die an die Seite gestellten Bilder aus dieser Schrift geben einen Eindruck dieser Pracht. Im Spektrum der Motive zwischen Wiesbadener Stadtgeschichte (Dr. Hans-Jörg Czech), Stadtbaukunst und Landschaftsgestaltung (Martin Horsten), faszinierender kartografischer Vermessungen (Prof. Dr. Wieser) der Residenz, Haupt- und Kurgroßstadt (Dr. Brigitte Streich) übernimmt die Gesellschaftskur in Wiesbaden eine zentrale Leitbildfunktion (Dr. Thomas Weichel). Damit ist der wesentliche Ankerpunkt benannt, mit dem sich Wiesbaden heute um die Anerkennung als Weltkulturerbestadt bemüht. Diese „Auszeichnung würde in ganz besonderem Maße das Augenmerk auf unser kulturelles Erbe richten, zu dem auch die Grundprinzipien der Internationalität und einer friedlichen Kommunikation gehören.“ (Helmut Müller).
Internationalität und Kommunikation
Im Sinne der UNESCO-Bildungsziele fragen daran anschliessend Simone Zagrodnik und Martin Horsten: „Wie stellt sich die ehemalige Weltkurstadt Wiesbaden aktuell dar? Was ist von ihrer Vergangenheit gegenwärtig? Welche Traditionen leben in ihr fort? Welche Werte sind geblieben und welche Zukunftschancen ergeben sich aus ihnen?“ Internationalität und Kommunikation sind entscheidende Essentials für die Beantwortung dieser Fragen, weil in ihnen die heutigen und zukünftigen Herausforderungen unserer globalen Dienstgesellschaft auf den Punkt gebracht werden. Und genau an diesem Punkt kann Wiesbaden, als die deutsche Gründer(zeit)- und Dienstleistungsstadt des 19. Jahrhunderts, aus seiner Geschichte eine profilierte Zukunft entwickeln: Nämlich ihre Weiterentwicklung als kreative und soziale Dienstleistungsstadt des 21. Jahrhunderts, die an der Schnittstelle von Kreation und Innovation eine neue, internationale Gründungsdynamik entfaltet und sich die Chancen der digitalen Gesellschaft erschliesst.
Das Alte Gericht zwischen Musealität und Moderne
Dieser auf Zukunft bezogene Wiesbadener Kulturerbekontext ist auch in die „Notwendigen Gedanken über die Zukunft des alten Wiesbadener Amtsgerichts“ [2] einzubeziehen. Denn gerade in diesem Gebäude kann die Bewahrung dieses Kulturdenkmals mit Öffentlichkeit und Offenheit für kreative Neubestimmungen und innovatives Gründungsklima in Einklang gebracht werden. Bertolt Bubner, städtischer Hauptkonservator a.D. leitet seine umfangreiche Studie hierzu ein: „… Das Bemühen um den Erhalt der baulichen Integrität des alten Wiesbadener Amtsgerichts innerhalb der umgebenden Baustruktur erfordert deshalb die unbedingte Fortführung seiner quasi öffentlichen Funktion, die angesichts der langjährigen und bisher erfolglosen Bemühungen um ein Stadtmuseum, welches der historischen Bedeutung Wiesbadens für die Entwicklung der europäischen Bäderkultur entspricht, sinnvoller Weise auch in einer musealen Nutzung des weitläufigen Gebäudes zu finden ist.“ Wiesbadens Anspruch und „Markenkern“ als Hochburg des Historismus seine Musealität mit Modernität udn wirtschaftlicher Innovationskraft zu verbinden, kann an diesem Ort beispielhaft eingelöst werden.
[1] Die folgenden Gedanken beziehen sich auf die Schrift „Kulturerbe Wiesbaden – Bühne der Gesellschaftskur im 19. Jahrhundert“ der Landeshauptstadt Wiesbaden
[2] Studie von Bertolt Bubner, Hauptkonservator a.D. der Stadt Wiesbaden „Notwendige Gedanken über die Zukunft des alten Wiesbadener Amtsgerichts“, zum Download


„Das Gedächtnis ist ein Speicher, aus dem die Erinnerungen, einmal dort gespeichert, in verschiedene Ordner umgeordnet werden können, so dass wir von der jeweils neu entstehenden Realität in eine jeweils andere Zukunft blicken können. Oft ist es der Flügelschlag des Schmetterlings, der über die Richtung unserer Gedanken und Projektionen entscheidet.“[1]

 

„Wiesbaden ist sich seines reichhaltigen kulturellen Erbes, seiner vielfältigen Traditionen, des Werts von Kontinuitäten bewusst. Was an Qualitätsvollem bewahrt ist, wird genutzt, die Gegenwart zu gestalten. Die Qualität, der Erfolg des Überkommenen ist der Maßstab für künftige Entwicklungen. Das Erbe zu respektieren, seine Werte zu erkennen und zu vermitteln, und es zur Gestaltung einer attraktiven Zukunft zu nutzen, ist Anspruch und Ansporn der Bürgerinnen und Bürger im sich beständig wandelnden Wiesbaden von heute und morgen.“[2]
Wiesbadens Umgang mit dem Alten Gericht steht beispielhaft dafür, wie diese Stadt ihr kulturelles und kollektives Gedächtnis formen und ausgestalten will. Und ob es die Chancen und Potenziale dieses Ortes „für die Gestaltung einer attraktiven Zukunft“ zu nutzen weiß.

 

 

[1] Christa Bisenius / Niklas Luhmann am 25.5.2015

[2] Simone Zagrodnik und Martin Horsten: „Kontinuität und Wandel – Die Stadt Wiesbaden Heute und Morgen“ in „Kulturerbe Wiesbaden – Bühne der Gesellschaftskur im 19. Jahrhundert“

VISIONEN

Für ein lebendiges Haus der Stadtkultur und der Wiesbadener Stadtgeschichte